About
Considering the Earth’s Rotation, 2021
Exhibition text about the series “Analysis” by
Christine Wetzlinger Grundnig
Wir leben heute, im Zeitalter des Anthropozän, in einer komplexen Welt, die sich fortlaufend in einem dynamischen Prozess verändert. Die sozialen, politischen, ökologischen und ökonomischen Systeme, die uns zunehmend vielschichtiger erscheinen, interagieren weltweit miteinander und führen zu neuen Ordnungen aber auch zu Turbulenzen und Verunsicherung, bestärkt durch explodierende Bevölkerungszahlen, Migration, Mobilität, Massenproduktion, Ressourcenvergeudung, Umweltverschmutzung und Klimaveränderung, die nicht nur zur kollektiven Aufgabenstellung werden, sondern uns auch die Fragilität bisher gesicherter Fundamente vor Augen führen. Mediale Informationstechnologien und globale Kommunikation, Bilderflut und Nachrichtenschwemme tragen das ihre dazu bei. Neue Technologien, allen voran Digitalisierung und Automatisierung, zeitigen Entwicklungen, die zu einschneidenden Veränderungen unserer Lebenswelt führen. Der Mensch ist gezwungen, sich stetig anzupassen, neue Fähigkeiten zu entwickeln, neue Technologien zu adaptieren und die Wahrnehmung flexibel zu schärfen, um Zusammenhänge zu erkennen, Orientierung zu gewinnen und die Herausforderungen zu bewältigen. Diesem komplexen System ist mit einem linearen Denken nicht mehr beizukommen. Alles hängt mit Allem zusammen und fordert demgemäß eine holistische Sicht- und Denkweise.
Dem entspricht der Arbeitsansatz von Simon Goritschnig, der versucht, mit künstlerischen Möglichkeiten, die Komplexität unseres Universums zu erkunden und sich über die Kunst ein besseres Verständnis der Welt zu verschaffen. Wobei er davon ausgeht, keine eindeutigen Antworten zu finden. „Denn eine klare Antwort auf die ungelösten Menschheitsfragen gibt es nicht, genauso wenig, wie es eine allumfassende Weltformel gibt, die einem den ganzen Kosmos erklären kann.“, stellt Simon Goritschnig fest und strebt vielmehr nach einer „geteilten Weltformel“, die eine vielfältige Herangehensweise an die Materie – unter der Prämisse verschiedener Perspektiven, Methoden und Ausdrucksweisen – und die Berücksichtigung unerwarteter Auswirkungen und neuer Effekte verlangt.
So wie es heute nicht mehr möglich ist, sich mit herkömmlichen Mitteln in der Welt zurechtzufinden, ist es auch unmöglich geworden, diese Welt mit klassischen bildnerischen Kategorien zu vermessen. Über ein möglichst weites und nuanciertes Feld unterschiedlichster Verfahrensweisen und Blickwinkel versucht der Künstler ein Verhältnis zur menschlichen Existenz in einer vielschichtigen Welt und einem unendlichen Kosmos herzustellen. Dabei handelt es sich nicht um ein kausales systematisch-logisches Verfahren, dem er folgt, sondern vielmehr um ein Befragen und Herantasten aus allen Richtungen, um ein Prüfen unterschiedlicher Möglichkeiten, um ein Hinterfragen verschiedener Optionen aus unterschiedlichen Fachbereichen der Philosophie, insbesondere der Metaphysik, aber auch der Spiritualität, der Erfahrung einer transzendenten Wirklichkeit.
Auf seiner Spurensuche nach kulturellen, sozialen, politischen, religiösen, soziologischen, biologischen, aber auch medialen Zusammenhängen bedient sich Simon Goritschnig der Methoden unterschiedlicher Sparten der Natur- und Geisteswissenschaften und verbindet diese mit der bildnerischen Arbeit, zu forderst der Zeichnung. Dem folgen Malerei, Skulptur, Computergrafik, Installation und Film. Der Künstler greift über Disziplinen und Epochen hinweg, führt Wissen und Erkenntnisse beliebig zusammen und verschleift die Grenzen – arbeitstechnisch, inhaltlich und stilistisch.
Der Ausgangspunkt der Arbeit liegt in spezifischen Wahrnehmungen. Es sind Elemente der Natur und Dinge menschlicher Erfindung, die selektiv erfasst und zu einem reichhaltigen bildnerischen Vokabular versammelt werden. Der Künstler gewinnt seine Referenzen aus unmittelbaren Eindrücken der Realität, zum Beispiel auf Reisen, sowie aus multiplen, analogen und digitalen Quellen, wie aus Internetrecherchen, und greift ebenso auf imaginäre Bilderressourcen seiner eigenen Vorstellungswelt zurück. Landschaftliches, Zoologisches, Botanisches werden zu Motiven. Dazu kommen phantastische formale Konstrukte, die elektronisch mit Hilfe von 3-D-Brille und Computer generiert werden.
Simon Goritschnig verbindet Natur und Technik, Kunst und Wissenschaft, herkömmliche künstlerische Mittel mit modernen Medien, Analoges mit Digitalem, Organisches mit Physikalischem, Reales mit Illusionistischem, Chaos mit Ordnung.
In seinen neuesten Arbeiten orientiert er sich an naturwissenschaftlichen Illustrationen aus Enzyklopädien des französischen Kupferstechers Benard Direxit (1734-77) und des deutschen Mediziners, Naturforschers und Zeichners Ernst Heinrich Haeckel (1834-1919), die die faszinierenden Formen von Flora und Fauna in mikroskopisch-detaillierten Zeichnungen dokumentieren – eine frühe Form der Verbindung von Wissenschaft und Kunst, wie sie auch Simon Goritschnig vollzieht, der jedoch im Gegensatz zu seinen Vorläufern, deren Werk noch streng (in Naturtreue) der Wissenschaft verpflichtet ist, frei interpretatorisch und selbständig-erfinderisch arbeiten kann. Goritschnigs Annäherungen an die Natur münden in eine (persönliche) Enzyklopädie, die als subjektiver imaginärer Hort sämtlicher eigener Bildwahrnehmungen, -produktionen und -vorstellungen angelegt ist.
Der Titel der aktuellen Serie, „Analyse“, verweist auf die Untersuchung und Auswertung der angesammelten Materialien wie der eigenen inneren Reservoirs – des Künstlers wie der Rezipierenden.
Selektierte Motive werden in einem digitalen Verfahren assoziativ zu Collagen zusammengestellt, um als computergeneriertes Vorbild zeichnerisch mit dem Grafit- oder Farbstift auf Papier übertragen zu werden. Dabei durchlaufen sie einen Transformationsprozess, in dem jeder einzelne Gegenstand individuell neu erschaffen wird. Jede Zeichnung ergibt ein autonomes Bild eigener Gesetzlichkeit, ausgeführt in präzisen Strichen zu detaillierten, körperhaften Darstellungen von hohem Naturalismus oder in höherem Tempo zu stärker abstrahierten, expressiveren Ergebnissen.
Die Zeichnung ist das Mittel, mit dem der Künstler nicht nur die Bildgegenstände festhält, sondern sie zugleich feinnervig ergründet. Strich für Strich nähert er sich ihnen, macht sich mit ihnen vertraut, eignet sie sich an, fokussiert sie mit forschendem Blick, erkundet Form und Beschaffenheit und kehrt ihre Individualität hervor.
Im Zeichenprozesses kann es intuitiven zu formal-ästhetischen Eingriffen kommen – durch Ritzlinien ins Papier oder durch computergenerierte Strukturen – die konterkarierend über die Flächenordnungen gelegt werden, die eine weitere Sinn- und Relationsebene einziehen.
Die einzelnen Fragmente werden, in einem dichten und nach allen Richtungen offenen Bezugssystem, zu Andockstellen für bildliche und inhaltlich Verknüpfungen. Ihre spezifische Anordnung erzeugt Interaktionen, in denen die Einzelbilder mit neuen Gehalten aufgeladen werden und ganz neue (symbolische, mythische und mystische) Bedeutungen erlangen. In einem Schichtsystem werden Ordnungen hergestellt, die immer neue Ordnungen etablieren – quasi Heterogenes homogenisierend. In der Zusammenschau der einzelnen Teile entstehen Ergebnisse, deren Qualität weit über das Potential ihrer Einzelteile hinausgeht, ganz im Sinne emergenten Systemverhaltens, dessen Auslotung – im Zusammenspiel sämtlicher Komponenten im großen Daseins-Kontext – den Künstler zu immer neuen Strategien herausfordert.